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Hier finden Sie die Dokumentation der 13. Baustelle Inklusion vom 17. Juni 2024: „Entweder sind alle normal oder niemand!“ - Diskriminierungskritische Perspektiven auf Inklusion und Ableismus in Kita und Grundschule”
Vor 15 Jahren trat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) in Deutschland in Kraft. Darin verpflichtet sich Deutschland, für ein „inklusives Bildungssystem“ zu sorgen, um das Recht aller Kinder auf Bildung „ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit“ [1] zu verwirklichen.
Wie sieht es damit aus, nach 15 Jahren?
Nicht gut, so die Einschätzung vieler Behindertenverbände und Inklusionsaktivist*innen. Ihre Kritik: Inklusion kommt im Bildungssystem schleppend voran. Strukturelle Veränderungen werden abgewehrt. Es gibt das Festhalten an Routinen und Gedanken, die ausgrenzen. Es gibt wenig Bereitschaft, von positiven Beispielen zu lernen. Die massive Diskriminierung von Kindern mit Behinderung und ihren Bezugspersonen wird hingenommen. In der Einschätzung von Raúl Aguayo-Krauthausen: „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“ [2]
Nicht gut, so ist auch die Einschätzung des UN-Ausschusses zur Überprüfung der Umsetzung der Konvention. Der Ausschuss fordert in seinem Bericht 2023 erneut, Deutschland müsse den Übergang von Sondereinrichtungen zu einem inklusiven Bildungssystem endlich beschleunigen und die vielen Barrieren beim Zugang von Kindern mit Behinderung zum Regelsystem abbauen. [3] Er fordert Investitionen in Qualifizierung und Aufklärung zu Inklusion und die Beseitigung von Barrieren, um allen Kindern Teilhabe zu ermöglichen. Er fordert, nicht weiter am medizinischen Modell von Behinderung festzuhalten, sondern endlich das menschenrechtliche Verständnis von Behinderung zu verankern: Menschen sind nicht behindert, sondern sie werden behindert, tagtäglich.
Die Inklusionsbremse hat einen Namen: Ableismus. Gemeint ist damit die Diskriminierung und Benachteiligung, wenn Menschen willkürliche Leistungsnormen nicht erfüllen. Damit verbunden ist ein Bewertungssystem von „normal“ und „abweichend“, das bereits in früher Kindheit verinnerlicht wird. Ableismus zeigt sich auch in der fehlenden Bereitschaft, Barrieren zu beseitigen. Ein Grund dafür könnte die fehlende Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung sein.
Es bedarf kritischer Selbstreflexion, um dies zu erkennen. Ableismus ist auch Teil unserer Sprache, z.B. wenn wir von „Wahnsinn“, von „Idiot*innen“, von „blinden Flecken“ sprechen. Wenn „behindert“ als Schimpfwort fungiert: „Bist du behindert, oder was?“ [4] So nennen Rebecca Maskos und Mareice Kaiser ihr Buch, dem wir bei der Vorbereitung der Tagung viele Denkanstöße verdanken.
Ableismus ist tief in institutionellen Strukturen verankert, insbesondere im Bildungssystem: Die Vorstellung von „kindlicher Normalentwicklung“ durchzieht Lehrpläne, Diagnostik-Instrumente, Förderpläne, die Logik der Mittelvergabe und die Zuweisungen zu Sondereinrichtungen. Es bedarf machtkritischer Analysen, um aufzudecken, wie gewaltvoll und ausgrenzend Ableismus wirkt, wer davon wie betroffen wird und wer (noch) nicht. Ableismus zu ignorieren gehört zu den Privilegien derer, die davon derzeit nicht behindert werden.
Folglich braucht es die kritische Reflexion von Privilegien und gleichzeitig Möglichkeiten von Empowerment und Teilhabe.
Und es bedarf alternativer pädagogischer Konzepte, die der vorhandenen Heterogenität respektvoll und realistisch begegnen und die der Normierung mit Verweis auf die Menschenrechte widerstehen. Etwa mit diesen Worten der 6-jährigen Mila: „Entweder sind alle normal oder niemand!“ In der pädagogischen Praxis gibt es Beispiele, wie Inklusion ansatzweise gelingen kann. Sie könnten Leitsterne für Bildungsgerechtigkeit sein!
In der Fachstelle Kinderwelten haben wir 2010 eine Tagung mit dem Titel „Bildung konsequent inklusiv“ durchgeführt. Wir haben uns mit der UN-BRK beschäftigt, wir teilen ihre Vision und ihre Grundsätze und bezeichnen den Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung als inklusives Praxiskonzept. Seit 2011 gibt es die jährliche Baustelle Inklusion. Und dennoch gibt es auch bei uns Ableismus, in unseren Strukturen und in unserem Denken. Das Motto der Behindertenbewegung „Nichts über uns ohne uns“ verwirklichen wir nur lückenhaft.
Bei dieser Baustelle wollen wir mit euch Teilnehmer*innen zusammen bilanzieren: Was haben wir nach 15 Jahren UN-BRK erreicht? Was konnten wir mit dem Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung beitragen? Wo sind Versäumnisse, Leerstellen und Zukunftsideen?
Ableismus wird ein Schwerpunkt sein: Was ist damit gemeint? Wie können wir Ableismus unter uns und in den pädagogischen Einrichtungen zum Thema machen? Welche positiven Beispiele gibt es?
Die diesjährige Baustelle Inklusion soll Gelegenheiten zum Austausch und zur Begegnung bieten. In Präsenz in Berlin am 17.6.2024 und auch an den darauffolgenden vier Tagen in Online-Workshops. Hier vertiefen wir aufgeworfene Fragen, stellen Inklusion in der Praxis vor, aus den Perspektiven von Inklusions-Aktivist*innen, Kindern, Fachkräften, Eltern/Bezugspersonen.
Und weil wir in diesem Jahr unser Projekt „Demokratiebildung im Kindesalter“ abschließen, möchten wir mit euch zusammen feiern: Kommt zur Party am Montagabend 17.6.2024!
Hinweise: Das Tagesprogramm der Baustelle Inklusion findet am 17.06.2024 als Präsenz-Veranstaltung in der Berliner Stadtmission (Lehrter Straße 68, 10557 Berlin) statt. Für vegetarische Verpflegung sowie Getränke ist gesorgt. Die Online-Workshops finden in der Woche vom 18.06.-21.06.2024 via Zoom statt.
Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autorinnen und Autoren die Verantwortung.